Tagesstärkung

Johannes Bonaventura
Kirchenlehrer und Kardinal

Itinerariummentis in Deum -
Der Weg des Menschen zu Gott



16.09.2022

Johannes Bonaventura
Kirchenlehrer und Kardinal

Einleitung

Nach einem Wort von Johannes Gerson († 1429) ist das Itinerarium Bonaventuras völlig vom Geiste Gottes durchweht, kein anderes Buch der Literatur steht höher als dieses. Wenigstens für die mystische Literatur trifft das Urteil bis heute zu. Das Itinerarium verbeugt sich vor der stupenden Heiligkeit des hl. Franziskus († 1226) und beschreibt seine Entrückung auf dem Berg Alverna als vorbildlichen Weg zu Gott. Es versucht, diesen speziellen Weg zum allgemeinen zu machen und verbindet dabei die großen Gegensätze des Lebens: Gott und Welt, Weisheit und Wissen, Ekstase und Genauigkeit. Es ist die letzte Schrift, welche die Einheit der Welt in Gott beschreibt, bevor Thomas von Aquin der Philosophie eine relative Autonomie zusprach, welche die Theologie in der Neuzeit zu einer Funktion der Welt machte und sie schließlich aus dem Weltwissen ausschloß. Der Doctorseraphicus Bonaventura († 1274) ist nicht leicht zu verstehen, nicht weil er schwere, sondern weil er ungewohnt leichte Kost zu bieten hat. Deshalb haben einige Interpreten das kleine Werk De Reductione, welches die Hülle seines Denkens ohne seinen Inhalt transportiert, als Schlüssel zu seinem Werk genommen wurde. Ich meine, es ist zu sehen, wie stark das Itinerarium davon abweicht, ich meine, der seraphische Lehrer selbst setzt sich gegen die Beschneidung zur Wehr, die in De Reductione an seinem ekstatischen Denken vorgenommen wird. Neben der mystischen Läuterung auf dem Weg zu Gott kann diese Ausgabe auch den detektivischen Spürsinn fördern. Gott in allen Dingen zu finden, seine Spuren und Bilder in der Schöpfung zu erkennen, das mag die gleiche Kunst sein, wie den Unterschied zwischen Itinerarium und De Reductione wahrzunehmen.

Paderborn, 30. September 1996
Dieter Hattrup


Papst Benedikt XVI. vom 17.11.2017:

"Heute nimmt das Bewusstsein für die Tiefe der Figur des heiligen Bonaventura" und "für die zahlreichen Perspektiven seines Denkens" beträchtlich zu. Dies schreibt der emeritierte Papst Benedikt XVI. in seiner Botschaft an die Organisatoren der Konferenz zum Thema "Deus summe cognoscibilis. Die theologische Aktualität des heiligen Bonaventura".

"Beim Betrachten des Programms für das Symposium fällt mir auf, um wie vieles reicher das Bild des heiligen Bonaventura in der Zwischenzeit geworden ist und wie viel er uns somit zu sagen hat, gerade in diesem besonderen Moment der Geschichte"...


BENEDIKT XVI.

GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 3 März 2010

Hl. Bonaventura

Liebe Brüder und Schwestern,

heute möchte ich über den hl. Bonaventura von Bagnoregio sprechen. Ich muss gestehen, dass ich eine gewisse Nostalgie verspüre, während ich euch dieses Thema unterbreite, da ich an die Nachforschungen zurückdenke, die ich als junger Gelehrter gerade zu diesem, mir besonders teuren Autor durchgeführt habe. Die Kenntnis seines Denkens hat meinen Ausbildungsgang in nicht geringem Maße beeinflusst. Mit großer Freude habe ich vor einigen Monaten eine Pilgerreise zu seinem Geburtsort, Bagnoregio, unternommen, einer kleinen italienischen Stadt in Latium, die voll Verehrung die Erinnerung an ihn bewahrt.
Fortsetzung




20.11.2022

V. Die Schau der göttlichen Einheit durch ihren ersten Namen, das Sein

3. Primordialität des Seins (Teil II)

Da das Nicht-Sein ein Mangel an Sein ist, tritt es nur durch das Sein in die Erkenntnis ein. Das Sein aber tritt nicht durch etwas anderes ein. Denn alles, was erkannt wird, wird entweder als Nicht-Sein, als Möglichkeit oder als wirkliches Sein erkannt. Wenn also das Nicht-Sein nur durch das Sein und das mögliche Sein nur durch das wirkliche Sein erkannt werden kann, und wenn mit Sein die reine Wirklichkeit des Seins gemeint ist, dann gilt: Das Sein ist das Erste, was in der Vernunft auftritt, und dieses Sein ist reine Wirklichkeit.
Nun kann dieses Sein auch nicht einfach ein Teil sein. Solches Sein wäre beschränkt, weil ein Teil immer mit Möglichkeit vermischt ist. Es kann auch nicht einfach analog sein, weil analoges Sein nur sehr wenig wirkliches Sein enthält, eben weil es nur sehr wenig wirklich ist. Folglich kann das Sein Selbst nur das göttliche Sein sein.



19.11.2022

V. Die Schau der göttlichen Einheit durch ihren ersten Namen, das Sein

3. Primordialität des Seins (Teil I)

Wer also die unsichtbare Wirklichkeit Gottes nach der Einheit des Seins betrachten will, der möge zuerst seinen Blick auf das Sein Selbst richten und erkennen:
Dieses Sein ist so sehr und über alle Maßen gewiss, dass es nicht möglich ist zu denken, es existiere nicht. Denn das reinste Sein tritt nur bei voller Abwesenheit des Nicht-Seins auf, wie auch das Nichts nur bei voller Abwesenheit des Seins auftritt. Wie also das völlige Nichts nichts vom Sein, noch von seinen Grundbedingungen an sich hat, so hat auch umgekehrt das Sein nichts vom Nicht-Sein an Sich, weder der Wirklichkeit, noch der Möglichkeit nach, weder der Sache selbst, noch unserer Einschätzung nach.



18.11.2022

V. Die Schau der göttlichen Einheit durch ihren ersten Namen, das Sein

2. Gottes Sein und Wesen

Die erste Art richtet den Blick zuerst und hauptsächlich auf das Sein selbst, wobei sie sagt, der erste Name Gottes sei dieses: Er ist. Die zweite Art richtet den Blick auf das Gute selbst, wobei sie sagt, das Gute sei der erste Name Gottes. Der erste Name ist sehr stark mit dem Alten Testament verbunden, das vor allem die Einheit des göttlichen Seins verkündet. Daher wird dem Mose gesagt: Ich bin, Der Ich bin. Der zweite Name ist auf das Neue Testament bezogen, das durch die Taufe, die auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes zu spenden ist, die Vielfalt der Personen bestimmt. Daher hat unser Lehrer Christus, als Er den Jüngling, der das Gesetz schon beachtete, zum vollkommenen Leben des Evangeliums empor heben wollte, Gott hauptsächlich und genau mit dem Namen der Gute benannt. Niemand, sagte Er, ist gut außer Gott, dem Einen. Johannes von Damaskus folgt dem Mose, wenn er sagt: Das Er ist ist der erste Name Gottes. Dionysius folgt Christus, wenn er sagt: Der Gute ist der erste Name Gottes.



17.11.2022

V. Die Schau der göttlichen Einheit durch ihren ersten Namen, das Sein

1. Eintritt ins Allerheiligste

Es ist nicht nur möglich, Gott außerhalb von uns und innerhalb von uns zu betrachten, sondern auch oberhalb von uns. Außerhalb geschieht das durch die Spur, innerhalb durch das Bild und oberhalb durch das Licht, das über unserem Geiste aufgeleuchtet ist. Das ist das Licht der ewigen Wahrheit, da unser Geist unmittelbar von der Wahrheit selbst gebildet wird. Alle, die geübt sind in der ersten Art, sind schon bis in den Vorhof vor das Zelt getreten; alle, die geübt sind in der zweiten Art, sind in das Heiligtum eingetreten; alle, die geübt sind in der dritten Art, treten zusammen mit dem Hohenpriester in das Allerheiligste ein. Dort thronen über der Bundeslade die Cherubim der Herrlichkeit als Schatten für den Versöhnungsort. In ihnen erkennen wir die zwei Arten oder Stufen, wie die unsichtbare und ewige Wirklichkeit Gottes zu betrachten ist. Die eine Stufe handelt vom Sein Gottes, die zweite von den Besonderheiten der Personen.



16.11.2022

IV. Die Schau Gottes in Seinem Bild, das durch unverdiente Gaben erneuert wurde

8. Der erneuerte Mensch

Wenn unser Geist mit all diesen Lichtern der Erkenntnis erfüllt ist, wird die Seele von der göttlichen Weisheit gleichsam als Haus Gottes bewohnt. Sie wird zur Tochter Gottes, zur Braut und Freundin; sie wird zum Glied des Hauptes Christi, zur Schwester und Miterbin. Sie wird nicht weniger zum Tempel des Heiligen Geistes: Dieser ist auf den Glauben gegründet, von der Hoffnung erhoben und für Gott geweiht durch die Heiligkeit des Geistes und des Körpers. Dies alles vollbringt die völlig lautere Liebe Christi, die ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, Der uns gegeben ist. Ohne diesen Geist vermögen wir die Geheimnisse Gottes nicht zu erkennen. Denn das, was im Menschen ist, kann niemand erkennen als der Geist des Menschen, Der in ihm wohnt. So erkennt auch keiner, was in Gott ist, außer der Geist Gottes Selbst.
Lasst uns also in der Liebe verwurzelt sein und fest stehen, damit wir mit allen Heiligen begreifen können, wie unermesslich die Ewigkeit, wie weit die Freigebigkeit, wie hoch die Größe und wie tief das weise Urteil ist!



15.11.2022

IV. Die Schau Gottes in Seinem Bild, das durch unverdiente Gaben erneuert wurde

7. Natur und Gnade

Auf den beiden mittleren Stufen treten wir in uns selbst ein und betrachten Gott, Der Sich in den geschaffenen Bildern spiegelt. Diese Betrachtung entspricht den beiden mittleren Flügeln, die zum Fliegen ausgespannt sind. Darin wird erkennbar, dass wir zum Göttlichen hingeführt werden, und zwar durch die der Vernunftseele von Natur aus eingegebenen geistigen Kräfte, indem wir deren Aufgaben, Verhalten und Veranlagungen zur Wissenschaft in den Blick nehmen. Das wird ersichtlich aus der dritten Stufe. Wir werden auch durch die erneuerten Kräfte der Seele zum Göttlichen hingeführt, und zwar durch die theologischen Tugenden, die geistlichen Schriftsinne und die geistigen Ekstasen, wie auf der vierten Stufe sichtbar wird. Wir werden nicht weniger zum Göttlichen geleitet durch die seinshaften Tätigkeiten der Seele, nämlich die Reinigung, Erleuchtung und Vollendung des menschlichen Geistes, die uns durch die seinshaften Offenbarungen der Hl. Schrift von den Engeln gegeben wurden. So sagt es der Apostel: Das Gesetz wurde durch Engel erlassen und in die Hand eines Mittlers gelegt. Schließlich werden wir zum Göttlichen auch hingeführt durch die Stufen und Seinsordnungen, die in unserem Geiste nach dem Vorbild des himmlischen Jerusalem auszubilden sind.



14.11.2022

IV. Die Schau Gottes in Seinem Bild, das durch unverdiente Gaben erneuert wurde

6. Geistliche Schriftsinne

Von diesem Seinsordner und von der kirchlichen Ordnung handelt die ganze Hl. Schrift, die uns den Weg der Reinigung, Erleuchtung und Vollendung lehrt. Das geschieht nach dem dreifachen Gesetz, das sie enthält, nach dem Gesetz der Natur, der Schrift und der Gnade, oder vielmehr nach ihren drei Hauptstücken, nach dem reinigenden Gesetz des Mose, nach der erleuchtenden Offenbarung der Propheten und nach der vollendenden Lehre des Evangeliums, vor allem aber nach ihrem dreifachen geistlichen Sinn: Die Tropologie reinigt das Leben, damit es gesittet wird; die Allegorie erleuchtet den Verstand, damit er zur Klarheit gelangt; die Anagogie vollendet alles durch geistige Ekstase und süßestes Verkosten der Weisheit. Dies entspricht den angeführten drei theologischen Tugenden mit den erneuerten geistlichen Sinnen, auch den oben genannten drei Entrückungen mit den nach dem Sein geordneten Taten des Geistes. Dadurch kehrt unser Geist zum inneren Leben zurück, damit er dort Gott im strahlenden Glanz der Heiligen schaut. Von diesen Strahlen gebettet schläft er in Frieden und ruht dort, während der Bräutigam dringend bittet, nicht aufgeweckt zu werden, bis Er nach eigenem Willen hervor kommt.



13.11.2022

IV. Die Schau Gottes in Seinem Bild, das durch unverdiente Gaben erneuert wurde

5. Bedingung der Hl. Schrift

Wie die Philosophie hilfreich war, auf die vorige Stufe zu gelangen, so hilft auf besondere und vorzügliche Weise die Betrachtung der von Gott gesandten Hl. Schrift, um auf diese Stufe der Schau zu gelangen. Daher handelt die Hl. Schrift grundsätzlich vom Werk der Erneuerung, deshalb vor allem auch von den theologischen Tugenden, also von Glaube, Hoffnung und Liebe. Durch diese insgesamt wird die Seele erneuert, ganz besonders aber durch die Liebe. Von ihr sagt der Apostel, dass sie das Ziel der Unterweisung ist. Deshalb soll sie aus reinem Herzen, gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben geschehen. Sie ist, wie Paulus sagt, die Erfüllung des Gesetzes. Unser Erlöser bestätigt dies, wenn Er sagt, dass das ganze Gesetz und die Propheten an diesen beiden Geboten hängen, an der Liebe zu Gott und dem Nächsten.
Die beiden werden angedeutet durch den einzigen Bräutigam der Kirche, durch Jesus Christus, Der zugleich der Nächste und Gott ist, zugleich der Bruder und der Herr, zugleich auch der König und der Freund, zugleich der ungeschaffene und der inkarnierte Logos, unser Schöpfer und Neuschöpfer, das Alpha und das Omega. Er steht an der Spitze der Seinsordner, er reinigt und erleuchtet und vollendet die Braut, also die ganze Kirche und jede heiligmäßige Seele.



12.11.2022

IV. Die Schau Gottes in Seinem Bild, das durch unverdiente Gaben erneuert wurde

4. Erneuerung des Aufstiegs

Nachdem unser Geist seine Sinne wieder erlangt hat, ist er empfänglich geworden für die Rangordnung des Seins. Er vermag auf die richtige Art nach oben zu steigen, zu dem oberen Jerusalem, in das niemand eintritt, wenn es selbst nicht vorweg durch die Gnade in das Herz hinab gestiegen wäre, wie Johannes in seiner Apokalypse gesehen hat. Wenn nämlich unser Geist durch die Erneuerung des Bildes, durch die theologischen Tugenden, durch die Wonnen der geistlichen Sinne und die Erhebungen der Ekstasen für die Rangordnung empfänglich geworden ist, dann steigt dieses Jerusalem in das Herz hinab. So wird unser Geist gereinigt, erleuchtet und vollendet. Dadurch wird auch der Geist mit den Stufen der neun Ordnungen ausgestattet, indem in seinem Inneren und in richtiger Weise zunächst Verkündung, Weisung, Führung, dann Ordnung, Stärkung, Befehl, schließlich Aufnahme, Offenbarung und Salbung geschehen. Diese entsprechen von Stufe zu Stufe den neun Ordnungen der Engel, so dass die ersten drei der genannten Stufen im menschlichen Geist der Natur, die folgenden drei der Mühe und die letzten drei der Gnade entsprechen. Wenn die Seele mit diesen Stufen ausgestattet ist und in sich selbst eintritt, dann tritt sie in das obere Jerusalem ein. Dort schaut sie die Ordnungen der Engel und sieht zugleich in ihnen Gott, Der in ihnen wohnt und all ihre Taten vollbringt.
Daher sagt Bernhard von Clairvaux in einem Schreiben an Papst Eugen III.: Gott liebt in den Seraphim als Liebe, Er weiß in den Cherubim als Wahrheit, Er sitzt in den Thronen als Gerechtigkeit, Er herrscht in den Herrschaften als Majestät, Er lenkt in den Fürsten als Ursprung, Er schützt in den Mächten als Heil, Er wirkt in den Kräften als Kraft, er offenbart Sich in den Erzengeln als Licht und Er waltet in den Engeln als Güte. Durch alle diese Engel hindurch wird Gott bei der Kontemplation im Geist als Der angeschaut, Der alles in allem ist. Dort wohnt Er durch die Gaben einer überströmenden Liebe.



11.11.2022

IV. Die Schau Gottes in Seinem Bild, das durch unverdiente Gaben erneuert wurde

3. Erneuerung der Sinne (Teil II)

Hat die Seele die Sinne wieder erlangt, kann sie wie die Braut im Hohenlied singen, die ihren Bräutigam sieht und hört, im Duft wahrnimmt, ihn schmeckt und umfängt. Dieses Gedicht wurde geschaffen, um sich in der Kontemplation auf der hier gezeigten vierten Stufe zu üben, die niemand ergreift, der sie nicht empfängt. Denn auf ihr gilt mehr die gefühlte Empfindung als die gedachte Überlegung. Auf dieser Stufe nämlich, wenn die inneren Sinne fähig werden, das Schönste zu sehen, das Klangvollste zu hören, das Duftigste zu riechen, das Süßeste zu schmecken und das Lieblichste zu spüren, wird die Seele auf die geistige Entrückung vorbereitet, und zwar durch Hingabe, Bewunderung und Jubel, was den drei Ausrufen im Hohenlied entspricht.
Der erste dieser Rufe entspringt der Fülle der Hingabe; dadurch wird die Seele zu einer Art Rauchfaden, der aus dem Duft von Myrrhe und Weihrauch besteht. Der zweite Ruf entspringt der Größe der Bewunderung; dadurch wird die Seele wie die Morgenröte, wie Mond und Sonne, nach der Art und Weise des Lichtes, das die Seele beim Anschauen des Bräutigams zur Bewunderung hinreißt. Der dritte Ruf entspringt der Überfülle des Jubels; dadurch wird die Seele mit den Genüssen süßester Freude überschüttet, während sie selbst sich ganz auf ihren Geliebten verlässt.



10.11.2022

IV. Die Schau Gottes in Seinem Bild, das durch unverdiente Gaben erneuert wurde

3. Erneuerung der Sinne (Teil I)

Überkleidet werden muss das Bild unseres Geistes mit den drei theologischen Tugenden. Dadurch erlangt die Seele Reinigung, Erleuchtung und Vollendung. So wird das Bild neu gestaltet und geformt nach dem himmlischen Jerusalem und wird zu einem Teil der kämpfenden Kirche. Nach einem Wort des Apostels ist sie ein Sprössling des himmlischen Jerusalem. Er sagt nämlich: Jenes Jerusalem oben, das ist frei, und das ist unsere Mutter.
Jesus Christus ist der fleischgewordene, ungeschaffene und geisterfüllte Logos, nämlich der Weg, die Wahrheit und das Leben. An Ihn glaubt die Seele, auf Ihn hofft sie und Ihn liebt sie. Indem sie durch den Glauben auf Christus, den ungeschaffenen Logos vertraut, welcher der Logos und der Glanz des Vaters ist, erlangt sie das geistige Hören und Sehen wieder; das Hören, um die Worte Jesu aufzunehmen, das Sehen, um den Glanz Seines Lichtes zu schauen. Indem sie in der Hoffnung danach trachtet, den inspirierten Logos aufzunehmen, erlangt sie durch Verlangen und Gefühl den geistigen Geruchssinn wieder. Indem sie in der Liebe den inkarnierten Logos umschließt, um von Ihm die Wonne zu empfangen und um durch ekstatische Liebe da hinein zu fallen, erlangt sie den Geschmack- und Tastsinn wieder.



09.11.2022

IV. Die Schau Gottes in Seinem Bild, das durch unverdiente Gaben erneuert wurde

2. Christus als Lebensbaum

Wer gefallen ist, muss dort liegen bleiben, wo er liegt, wenn nicht jemand vorbei kommt und ihm beim Aufstehen hilft. Unsere Seele könnte sich nicht vollständig von den Sinneskräften zur Anschauung ihrer selbst und der ewigen Wahrheit in sich selbst erheben, wenn nicht diese Wahrheit selber, indem sie eine menschliche Gestalt annahm, sich zur Leiter gemacht und die frühere Leiter, die in Adam zerbrochen war, wieder erneuert hätte.
Soviel daher auch jemand durch das Licht der Natur und des erworbenen Wissens erleuchtet sein mag, er kann nur durch die Vermittlung Christi in sich selbst eintreten, um dann in sich die Freude am Herrn zu finden. Dieser sagt: Ich bin die Tür; wenn jemand durch Mich eintritt, wird er gerettet werden; er wird ein und ausgehen und Weide finden. An diese Tür gelangen wir nur, wenn wir an Ihn glauben, auf Ihn hoffen und Ihn lieben. Wenn wir also wieder zum Genuss der Wahrheit finden wollen wie zu einem Paradies, so ist es notwendig, dass wir durch Glaube, Hoffnung und Liebe eintreten. Diese gehören zu dem Mittler zwischen Gott und den Menschen, zu Jesus Christus, denn Er ist gleichsam der Baum des Lebens mitten im Paradies.


08.11.2022

IV. Die Schau Gottes in Seinem Bild, das durch unverdiente Gaben erneuert wurde

1. Tiefe des Unglücks
Es ist nicht nur möglich, den Uranfang zu betrachten, indem wir durch uns hindurch gehen, es ist auch möglich, Ihn in uns selbst zu betrachten, und dies ist sogar im Vergleich zur vorigen Stufe die höhere Möglichkeit. Deshalb nimmt diese Art des Nachdenkens die vierte Stufe der Betrachtung ein. Wunderlich allerdings scheint es zu sein, dass nur wenige Menschen den Uranfang in ihrem Inneren erschauen, obwohl Er doch, wie oben gezeigt, unserem Geist so nahe ist. Der Grund
liegt allerdings auf der Hand. Der menschliche Geist ist durch Sorgen abgelenkt und tritt nicht durch das Gedächtnis bei sich selber ein; durch Illusionen ist er benebelt und kommt nicht durch die Einsicht zu sich selbst zurück; durch Begierden wird er verlockt und kehrt in keiner Weise durch das Verlangen nach innerer Süßigkeit und geistlicher Freude zu sich selbst zurück. Da er so ganz und gar mit seinen Sinneskräften am Boden liegt, kann er nicht wieder in sich selbst als in ein Bild Gottes eintreten.



07.11.2022

III. Die Schau Gottes durch Sein Bild, das den natürlichen Kräften eingeprägt ist

7. Lob des Lichtes
Alle diese Wissenschaften besitzen sichere und unfehlbare Gesetze. Sie sind wie Lichter und Strahlen, die vom ewigen Gesetz in unseren Geist herab steigen. Darum kann auch unser Geist, der von so viel Glanz durchstrahlt und übergossen wird, wenn er nicht blind ist, durch sich selbst zur Betrachtung des ewigen Lichtes geführt werden. Die Einstrahlung und Betrachtung dieses Lichtes erhebt die Weisen zur Bewunderung; dagegen werden die Unweisen, die ohne Glauben zum Verständnis gelangen wollen, in die Irre geführt. Damit erfüllt sich das prophetische Wort: Wunderbar erstrahlst Du von den ewigen Bergen her, aber verwirrt werden alle, die unweise sind im Herzen.



06.11.2022

III. Die Schau Gottes durch Sein Bild, das den natürlichen Kräften eingeprägt ist

6. Trinität in der Wissenschaft

Diese Betrachtung, welche die Seele über ihren dreifachen und einfachen Ursprung mit Hilfe der Dreifaltigkeit ihrer Kräfte anstellt, wird ergänzt durch die Erhellungen der Wissenschaften, welche die Seele ausbilden und vollenden und die Seligste Dreifaltigkeit dreifach abbilden.
Denn jede philosophische Lehre ist entweder Naturphilosophie, Erkenntnistheorie oder Morallehre. Die erste handelt von der Ursache des Seins, führt also zur Macht des Vaters; die zweite handelt vom Begriff der Erkenntnis, führt also zur Weisheit des Logos; die dritte handelt von der Lebensführung, führt also zum Gutsein des Heiligen Geistes.
Weiter wird die Naturphilosophie in Metaphysik, Mathematik und Physik eingeteilt. Die erste handelt vom Sein der Dinge, die zweite von Zahlen und Figuren, die dritte von der Beschaffenheit, den Kräften und den sich ausbreitenden Wirkungen. Also führt die erste zum Uranfang, dem Vater, die zweite zu Seinem Abbild, dem Sohn, die dritte zur Gabe des Heiligen Geistes.
Die Erkenntnistheorie wird eingeteilt in Grammatik, die uns im Ausdruck fähig, in die Logik, die uns für das Beweisen scharfsichtig, und in die Rhetorik, die uns zum Überzeugen und Motivieren geschickt macht. Dies legt in ähnlicher Weise das Geheimnis der Heiligsten Dreifaltigkeit nahe.
Die Morallehre gliedert sich in die individuelle, die familiäre und die politische Ethik auf. Darum legt die erste die Ursprungslosigkeit des Uranfangs nahe, die zweite die Verwandtschaft des Sohnes, die dritte die Freigebigkeit des Heiligen Geistes.



05.11.2022

III. Die Schau Gottes durch Sein Bild, das den natürlichen Kräften eingeprägt ist

5. Psychologische Trinität

Die Struktur, der Ursprung und das Verhalten der Seelenkräfte führen unmittelbar zur Seligsten Dreifaltigkeit.
Die Einsicht entspringt dem Gedächtnis wie sein Sprössling. Denn wir erhalten Einsicht, wenn das im Gedächtnis aufbewahrte Abbild in das Bewusstsein des Verstandes gelangt, und dieses ist nichts anderes als der Logos. Aus Gedächtnis und Einsicht wird die Liebe gehaucht, die gleichsam die Verbindung der beiden ist.
Diese drei, also der zeugende Geist, der Logos und die Liebe finden sich in der Seele wieder als Gedächtnis, Einsicht und Wille. Sie sind in gegenseitiger Durchdringung von gleichem Wesen, gleicher Art und gleicher Ewigkeit. Wenn Gott ein vollkommener Geist ist, dann besitzt Er Gedächtnis, Einsicht und Willen, dann besitzt Er auch einen gezeugten Logos und eine gehauchte Liebe, die notwendig unterschieden sind, da das eine vom anderen hervorgebracht wird, nicht dem Wesen oder der Äußerlichkeit, sondern der Person nach.
Indem also der Geist sich selbst bedenkt, steigt er durch sich selbst wie durch einen Spiegel zur Schau der Heiligen Dreifaltigkeit auf, zur Schau des Vaters, des Logos und der Liebe. Sie sind drei Personen von gleicher Ewigkeit, gleicher Art und gleichem Wesen, so dass jede Person in jeder anderen ist. Dennoch ist der eine nicht der andere, sondern alle drei zusammen sind der eine Gott.



04.11.2022

III. Die Schau Gottes durch Sein Bild, das den natürlichen Kräften eingeprägt ist

4. Der Wille (Teil II)

Das Verlangen richtet sich hauptsächlich auf das, was es am meisten in Bewegung setzt. Am meisten bewegt dasjenige, was am
meisten geliebt wird. Am meisten aber wird das Glück geliebt.
Das Glück wird nur durch das beste und letzte Ziel erreicht.
Nichts also erstrebt das menschliche Verlangen als nur das höchste Gut oder das, was zu ihm hinführt oder was davon ein Abbild
ist. Das höchste Gut übt eine solche Gewalt aus, dass ein Geschöpf außerhalb dieses Verlangens nichts lieben kann. Aber es
wird getäuscht und auf Irrwege geführt, wenn es das Bild und
Gleichnis als letzte Wahrheit nimmt.
Sieh also, wie nah die Seele bei Gott steht! Das Gedächtnis
führt zur Ewigkeit, die Vernunft zur Wahrheit und das Wahlvermögen zum höchsten Guten, wenn sie ihre Aufgaben vollziehen.



03.11.2022

III. Die Schau Gottes durch Sein Bild, das den natürlichen Kräften eingeprägt ist

4. Der Wille (Teil I)

Die Aufgabe des Wählens besteht aus Rat, Urteil und Verlangen.
Ein Rat ist das Herausfinden dessen, was besser ist, dieses oder jenes. Besser kann etwas nur durch die Nähe zum Besten heißen,
und Nähe besteht in der größeren Ähnlichkeit. Keiner weiß also, ob dieses besser ist als jenes, wenn er nicht weiß, daß es dem Besten ähnlicher ist. Keiner aber weiß, dass etwas einem anderen ähnlicher ist, wenn er dieses andere nicht kennt. Denn ich weiß nur, ob dieser dem Petrus ähnelt, wenn ich den Petrus kenne und wiedererkenne. Jedem also, der einen Rat zu finden weiß, ist der Begriff des höchsten Gutes notwendig eingeprägt.
Ein sicheres Urteil wird bei schwierigen Fragen auf Grund eines gesetzmäßigen Zusammenhanges gefällt. Keiner aber urteilt mit Gewissheit durch ein Gesetz, außer wenn er gewiss ist, dass das Gesetz richtig ist und selbst keines Urteils bedarf. Nun urteilt aber unser Geist über sich selber. Denn da er nicht über das Gesetz urteilen kann, mit dem er ein Urteil fällt, steht jenes Gesetz oberhalb unseres Geistes. Durch dieses Gesetz urteilt er, so wie es ihm eingeprägt ist. Nichts aber steht über dem menschlichen Geist außer dem Einen, Der ihn erschaffen hat. Also berührt unsere Urteilskraft die göttlichen Gesetze, wenn sie eine vollständige Analyse vornimmt.



02.11.2022

III. Die Schau Gottes durch Sein Bild, das den natürlichen Kräften eingeprägt ist

3. Die Vernunft (Teil IV)

Unsere Vernunft erfasst in dem Falle wirklich die Bedeutung eines Schlusses, wenn sie sieht, dass die Folgerung notwendig aus den Voraussetzungen folgt. Das erkennt sie nicht nur bei notwendigen, sondern auch bei bedingten Begriffen, so zum Beispiel: Wenn ein Mensch läuft, bewegt sich der Mensch. Dieses notwendige Verhalten nimmt die Vernunft nicht nur in seienden, sondern auch in nicht-seienden Dingen wahr. So zum Beispiel gilt, ob nun ein Mensch existiert oder nicht: Wenn ein Mensch läuft, bewegt sich der Mensch. Denn die Notwendigkeit eines solchen Schlusses hängt nicht von der Existenz des Dinges in der Materie ab, denn diese ist bedingt. Sie hängt auch nicht von der Existenz des Dinges in der Seele ab, denn sonst wäre der Schluss eine Einbildung, wenn ihm nichts in der Realität entspräche. Die Notwendigkeit des Schlusses stammt vielmehr von der Urbildlichkeit in der Ewigen Kunst. Demnach haben die Dinge eine Fügsamkeit und ein Verhalten an sich, das aus ihrer Darstellung in der Ewigen Kunst stammt. Augustinus sagt in der Schrift „Über die wahre Religion“, das Licht eines jeden guten Denkers wird von jener Wahrheit entzündet und sucht wieder zu ihr zu gelangen.
Daraus ist deutlich erkennbar, dass unsere Vernunft mit der Ewigen Wahrheit Selbst gekoppelt ist, denn nur durch ihre Belehrung kann das Wahre mit Sicherheit erkannt werden. Wenn dich die Begierden und Illusionen nicht behindern, wenn sie sich nicht wie Wolken zwischen dich und den Strahl der Wahrheit schieben, kannst du also durch dich selbst die Wahrheit erblicken, die dich belehrt.



01.11.2022

III. Die Schau Gottes durch Sein Bild, das den natürlichen Kräften eingeprägt ist

3. Die Vernunft (Teil III)

Wie aber kann die Vernunft wissen, ob ein bestimmtes Sein mangelhaft und unvollständig ist, wenn sie keine Kenntnis des Seins besitzt, das ohne jeden Mangel ist? Die gleiche Überlegung gilt von den anderen angeführten Grundzügen des Seins. Die Vernunft erfasst nach allgemeiner Ansicht nur dann die Bedeutung der Urteile, wenn sie mit Gewissheit weiß, dass sie wahr sind. Dieses Wissen erst bedeutet Wissen, weil man bei solcher Erkenntnis nicht getäuscht werden kann. Die Vernunft weiß dann, dass sich eine Wahrheit nicht anders verhalten kann; sie weiß auch, dass diese Wahrheit unveränderlich ist.
Da aber unser Geist unbeständig ist, kann er die unveränderlich aufstrahlende Wahrheit nur sehen, wenn er ein völlig unveränderlich strahlendes Licht erblickt, das unmöglich als Sein zu den veränderlichen Geschöpfen zählen kann. Er weiß nur in diesem Licht. Es ist das Licht, das jeden Menschen, der in diese Welt kommt, erleuchtet. Es ist das wahre Licht und das Wort, das im Anfang bei Gott war.


31.10.2022

III. Die Schau Gottes durch Sein Bild, das den natürlichen Kräften eingeprägt ist

3. Die Vernunft (Teil II)

Das Sein aber kann als vollständig oder unvollständig, als vollkommen oder unvollkommen, als mögliches oder wirkliches Sein, als bedingtes oder unbedingtes Sein, als teilweises oder ganzes Sein, als flüchtiges oder dauerhaftes Sein, als Sein durch anderes oder als Selbstsein, als mit Nichtsein vermengtes oder als reines Sein, als abhängiges oder als absolutes Sein, als früheres oder späteres Sein, als veränderliches oder unveränderliches Sein, als einfaches oder zusammen gesetztes Sein gedacht werden. Weil aber Minderungen und Mängel ausschließlich durch ein vorhandenes Sein erkannt werden können, kommt unsere Vernunft, wenn sie vollständig analysiert, nur dann zur Erkenntnis irgendeines beliebigen geschaffenen Seins, wenn sie Hilfe erfährt von der Erkenntnis des reinsten, wirklichsten, vollständigsten und absoluten Seins. Das ist das unbedingte und ewige Sein, das die Urgründe aller Dinge in reinster Form in sich trägt.



30.10.2022

III. Die Schau Gottes durch Sein Bild, das den natürlichen Kräften eingeprägt ist

3. Die Vernunft (Teil I)

Die Aufgabe der Vernunft besteht im sinnvollen Gebrauch von Begriffen, Urteilen und Schlüssen. Die Vernunft erfasst die Bedeutung der Begriffe, wenn sie erkennt, was jedes Ding seiner Abgrenzung nach ist. Diese Abgrenzung geschieht durch höhere Begriffe, die durch noch höhere Begriffe abgegrenzt werden, bis man zu den höchsten und allgemeinsten Begriffen kommt. Sind diese unbekannt, können die unteren Begriffe nicht genau abgegrenzt und verstanden werden. Wenn also nicht erkannt wird, was das Sein durch sich selbst oder was Selbstsein ist, kann die Definition einer besonderen Substanz nicht vollständig gewusst werden. Auch kann das Selbstsein nicht erkannt werden, wenn es in seinen Grundzügen unbekannt ist. Diese sind: Das Eine, das Wahre, das Gute.



29.10.2022

III. Die Schau Gottes durch Sein Bild, das den natürlichen Kräften eingeprägt ist

2. Das Gedächtnis (Teil II)

Aus der ersten Art des Festhaltens, also der zeitlichen Dinge, der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, besitzt das Gedächtnis eine Gestalt der Ewigkeit, deren unteilbare Gegenwart sich auf alle Zeiten erstreckt. Aus der zweiten Art ergibt sich, dass das Gedächtnis nicht nur von außen durch die Sinneseindrücke gebildet wird, sondern auch von oben, indem es die einfachen Formen aufnimmt und in sich trägt, die nicht durch die Pforten der Sinne und die Bilder der Sinneseindrücke hinein gehen können. Aus der dritten Art ergibt sich, dass dem Gedächtnis ein unveränderliches Licht gegenwärtig ist, mit dem es sich der unveränderlichen Wahrheiten erinnert. So wird durch die Aufgaben des Gedächtnisses klar, dass die Seele selbst ein Bild und Gleichnis Gottes ist. Ja, noch mehr, Er ist ihr gegenwärtig und sie hält Ihn gegenwärtig, weil sie Ihn im Vollzug erfasst und sie fähig ist, Sein Gefäß zu sein und an Ihm teilzuhaben.



28.10.2022

III. Die Schau Gottes durch Sein Bild, das den natürlichen Kräften eingeprägt ist

2. Das Gedächtnis (Teil I)

Die Aufgabe des Gedächtnisses ist das Festhalten und Wiedergeben, nicht nur der augenblicklichen, körperlichen und zeitlichen Dinge, sondern auch der zeitlichen, einfachen und zeitlosen Dinge. Denn das Gedächtnis enthält das Vergangene durch Erinnerung, das Gegenwärtige durch Aufnahme, das Zukünftige durch Voraussicht. Es enthält auch die einfachen Dinge wie die Ursprünge der stetigen und diskreten Größen, also den Punkt, den Augenblick und die Einheit, ohne die es unmöglich wäre, sich zu erinnern oder etwas zu denken, was durch diese Prinzipien hervorgebracht wird. Es enthält auch die Ursprünge und Axiome der Wissenschaften, die zeitlos sind und zeitlos gelten. Denn niemals kann man sie, wenn man seinen Verstand gebraucht, so vergessen, dass man sie nicht billigt, oder ihnen nicht zustimmt, sobald man sie hört. Nicht als ob man sie dabei von neuem aufnähme, sondern man erkennt sie in sich selbst als eingeboren und vertraut. Das wird klar, wenn einem solche Sätze vor Augen gelegt werden wie: Zu jeder Sache gibt es entweder Bejahung oder Verneinung. Oder: Das Ganze ist größer als sein Teil. Man kann dazu jedes beliebige Axiom nehmen, dem man aus einem inneren Grund nicht widersprechen kann, ohne sich selbst zu widersprechen.



27.10.2022

III. Die Schau Gottes durch Sein Bild, das den natürlichen Kräften eingeprägt ist

1. Ursprung der Seelenkräfte

Die beiden bisher besprochenen Stufen haben uns zu Gott geführt durch Seine Spuren, durch die Er in allen Geschöpfen aufstrahlt. Sie haben uns bis zu dem Punkt gebracht, an dem wir wieder in uns eintreten können, in unseren Geist nämlich, in dem ein Bild des Göttlichen aufstrahlt. Indem wir in uns selbst eintreten und gleichsam den Vorhof außen zurücklassen, müssen wir jetzt im dritten Kapitel versuchen, im Heiligtum, also im vorderen Teil des Zeltes, durch den Spiegel hindurch Gott zu schauen. Dort erstrahlt vor den Augen unseres Geistes wie auf einem Leuchter das Licht der Wahrheit; in diesem Licht erglänzt das Bild der Seligsten Dreifaltigkeit. Kehre also bei dir ein und sieh: Dein Geist liebt sich selbst leidenschaftlich. Er könnte sich nicht lieben, wenn er sich nicht kennen würde. Und er wüsste nichts von sich, wenn er sich nicht an sich selbst erinnerte. Denn nichts erfassen wir als Einsicht, was nicht in unserem Gedächtnis gegenwärtig ist. Zwar nicht mit den äußeren, aber mit den inneren Augen bemerkst du daher, dass deine Seele drei Fähigkeiten hat. Betrachte also die Aufgaben und das Verhalten dieser drei Kräfte, und du wirst Gott durch dich hindurch wie durch ein Bild schauen. Das eben heißt, Gott durch einen Spiegel wie in einem Rätsel zu schauen.



26.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt

12. Licht und Finsternis

Aus all dem ergibt sich, dass seit Erschaffung der Welt die unsichtbare Wirklichkeit Gottes an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen wird, so dass alle, die diese Wirklichkeit nicht bemerken und Gott in all dem nicht erkennen, preisen und lieben wollen, unentschuldbar sind, weil sie sich nicht aus der Finsternis in das wunderbare Licht Gottes bringen lassen wollen. Gott aber sei Dank durch Jesus Christus, unseren Herrn, der uns aus der Finsternis in Sein wunderbares Licht gebracht hat. Denn durch die von außen dargebotenen Erhellungen werden wir darauf vorbereitet, wieder vor den Spiegel unseres Geistes zu treten, in dem die göttliche Wirklichkeit aufleuchtet.



25.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt

11. Natur- und Heilsgeschichte

Die Geschöpfe der sinnlichen Welt sind also Zeichen für die unsichtbare Wirklichkeit Gottes. Das gilt zum einen, weil Gott für jedes Geschöpf der Ursprung, das Urbild und das Urziel ist. Denn jede Wirkung ist das Zeichen einer Ursache, ist das Bild eines Urbildes und ist der Weg des Zieles, zu dem sie hinführt. Also zum einen sind die Geschöpfe in sich selbst betrachtet Zeichen Gottes, dann zum anderen als prophetische Vorausbilder, als engelhafte Tätigkeit und schließlich in direkter Einsetzung. Denn jedes Geschöpf ist schon von Natur aus ein Bild und Gleichnis der ewigen Weisheit, besonders aber dasjenige, das in der Heiligen Schrift durch prophetischen Geist zum Vorbild geistlicher Tatsachen erhoben wird. In noch betonterer Weise geschieht das durch die Geschöpfe, in deren Gestalt Gott durch den Dienst von Engeln erscheinen wollte. Am meisten geschieht das durch die Geschöpfe, die Er als Zeichen einsetzen wollte; diese tragen nicht nur den Charakter eines Zeichens im allgemeinen Sinne, sondern auch den eines Sakramentes.



24.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt

10. Rückblick I und II

Auf den beiden ersten Stufen, die durch die zwei bis zu den Füßen reichenden Flügel dargestellt sind, werden wir angeleitet, Gott in den Spuren zu schauen. Dadurch können wir die Erkenntnis gewinnen, dass alle Geschöpfe der sinnlich wahrnehmbaren Welt den Geist dessen, der Betrachtung übt und nach Weisheit verlangt, zum ewigen Gott führen. Denn diese beiden Stufen sind Schatten, Echos und Zeichnungen des mächtigsten, weisesten und besten Uranfangs, des ewigen Ursprungs, des ewigen Lichtes und der ewigen Fülle, der schaffenden, urbildlichen und lenkenden Kunst. Spuren sind sie, stehende Bilder und Schauspiele, die uns vorgesetzt sind, um Gott anzuschauen; sie sind von Gott gegebene Zeichen. Diese Zeichen, sage ich, sind Beispiele oder besser Abbilder, die unserem bis jetzt noch rohen und sinnenverhafteten Geist vorgesetzt werden, damit er vom Sinnlichen, das er sieht, zum Geistigen, das er nicht sieht, hinüber geführt wird, also vom Zeichen zum Bezeichnenden.



23.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt

9. Sieben Zahlenarten (Teil II)

So vollzieht sich von den höchsten Zahlen durch die mittleren ein geordneter Abstieg zu den tiefsten Zahlen. Zu diesen steigen wir stufenweise von den Klangzahlen auf, vermittelt durch die Schrittzahlen, die Sinneszahlen und die Gedächtniszahlen.
Da alles Seiende schön ist und auf gewisse Weise Gefallen erregt, Schönheit und Gefallen aber nicht ohne ein Verhältnis bestehen können und ein Verhältnis zuerst von Zahlen bestimmt ist, deshalb ist alles Sein notwendig zahlhaft. Boethius sagt, dass „die Zahl das wichtigste Urbild im Geist des Schöpfers ist“, deshalb ist sie die wichtigste Spur, die zur Weisheit führt. Da sie allen ganz offenbar ist und Gott am nächsten steht, führt sie über die sieben Unterschiede in den Zahlen ganz nahe an Gott heran. Sie bewirkt, dass wir ihn in allen Körpern und Sinnesdaten erkennen, wenn wir die zahlhaften Gestalten wahrnehmen, von zahlhaften Verhältnissen erfreut werden und durch die Gesetzmäßigkeiten zahlhafter Verhältnisse unwiderleglich urteilen.



22.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt

9. Sieben Zahlenarten (Teil I)

Diese Einsicht wird erweitert mit der Überlegung von den sieben verschiedenen Zahlenarten, durch die man wie auf sieben Stufen zu Gott empor steigt. So zeigt es Augustinus im Buch über die wahre Religion und im sechsten Buch über die Musik. Dort weist er den verschiedenen Zahlenarten die verschiedenen Stufen zu, auf denen man stufenweise von den Sinnesdaten zum Erbauer des Alls aufsteigt, damit in allen Dingen Gott geschaut werden kann. Augustinus nämlich sagt, dass die Zahlen die Körper beherrschen, insbesondere die Töne und Stimmen; diese Zahlen nennt er Klangzahlen. Dann gibt es die davon abgelösten und von unseren Sinnen aufgenommenen Zahlen; diese nennt er Begegnungszahlen. Dann die von der Seele in den Körper übergehenden Zahlen, wie bei Gesten und beim Tanz; diese nennt er Schrittzahlen. Dann die Zahlen, die in den Genüssen der Sinne vorkommen und die durch die Hinwendung der Aufmerksamkeit zum Bild wahrgenommen werden; diese nennt er Sinneszahlen. Dann die im Gedächtnis festgehaltenen Zahlen; diese nennt er Gedächtniszahlen. Dann noch die Zahlen, durch die wir alle diese Zahlen beurteilen; diese nennt er Urteilszahlen. Diese gehen, wie gesagt, notwendigerweise als unfehlbar und keinem Urteil unterworfen über unseren Verstand hinaus. Von diesen Zahlen werden unserem Verstand die Kunstzahlen eingeprägt, die Augustinus jedoch unter diesen Stufen nicht mitzählt, weil sie eng mit den Urteilszahlen verbunden sind. Von diesen stammen wieder die Schrittzahlen ab, aus denen die Zahlgestalten der hergestellten Gegenstände geschaffen werden.



21.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt

8. Die Gegenwart Gottes

Noch eindrucksvoller und unmittelbarer führt uns das Beurteilen zur ewigen Wahrheit und zum zuverlässigen Anschauen. Ein Urteil kommt zustande durch den Verstand, der ein äußeres Bild von Ort, Zeit und Veränderlichkeit ablöst und damit zugleich auch von Messung, Reihenfolge und Vergänglichkeit, indem er einen unveränderlichen, unbegrenzten und unendlichen Begriff bildet. Nichts ist aber unveränderlich, unbegrenzbar und unendlich außer dem Ewigen. Alles Ewige aber ist Gott oder in Gott. Wenn wir also alles, was wir auf zuverlässige Art beurteilen, durch einen auf diese Weise gebildeten Begriff beurteilen, wird klar, dass Gott Selbst der Begriff aller Dinge, der Maßstab der Unfehlbarkeit und das Licht der Wahrheit ist. In Ihm leuchten alle Urteile unfehlbar, unauslöschlich, unzweifelhaft, unwiderleglich, keinem Urteil unterworfen, unveränderlich, ohne Einschränkungen, unendlich, unteilbar und völlig einsichtig auf. Die Gesetze also, durch die wir zuverlässig das Urteil über alle Sinnesdaten fällen, die zur Betrachtung in uns eingehen, sind unfehlbar und unbezweifelbar für das Wahrnehmungsorgan, unauslöschlich für das nachforschende Gedächtnis, als ob sie immer gegenwärtig wären, und unwiderleglich und nicht beurteilbar für das Urteilsorgan. Augustinus sagt: „Keiner urteilt über sie, sondern durch sie.“ Daher müssen sie, weil sie notwendig sind, unveränderlich und unzerstörbar sein; sie sind nicht einschränkbar, weil unbegrenzt; unbeendlich, weil ewig; daher geistig einsehbar und unkörperlich, weil unteilbar; nicht gemacht, sondern ungeschaffen; von Ewigkeit existierend in der Ewigen Kunst, von der, durch die und auf die hin alles Schöne gebildet ist. Deshalb kann ein zuverlässiges Urteil auch nur durch die Ewige Kunst gefällt werden, die nicht nur die Gestalt war, die alles hervor gebracht hat, sondern die alles erhält und leitet. Sie ist geradezu das Sein, das in allen Dingen die Gestalt formt und der leitende Maßstab. Durch sie auch beurteilt unser Verstand alles, was durch die Sinne in uns eintritt.



20.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt

7. Die Macht Gottes

Auf diese Art verweist jede erfreuliche Erscheinung, weil sie schön, lieblich und heilsam ist, auf das Erst- oder Urbild und auf die Tatsache, dass in ihr Urschönheit, Uranmut und Urheil zu finden sind. Im Urbild besteht mit dem Erzeuger eine höchste Entsprechung und Gleichheit. In Ihm ist eine Kraft, die nicht als Vorstellung, sondern als wirkliche Wahrnehmung fließt. Im Urbild gibt es einen heilenden und ausreichenden Nachdruck, der jede Bedürftigkeit des Wahrnehmenden aufhebt. Wenn also die Freude in der Vereinigung übereinstimmender Glieder besteht, wenn einzig das Ebenbild Gottes den Begriff des Schönsten, Lieblichsten und Heilsamsten erfüllt und wenn schließlich diese Einigung in Hinsicht auf Wirklichkeit, Innerlichkeit und Fülle jedes Fassungsvermögen befriedigt, dann lässt sich deutlich ersehen, dass einzig in Gott die ursprüngliche und wirkliche Freude ist, die zu suchen wir in jeder anderen Freude angeleitet werden.



19.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt

6. Das Wesen Gottes

Dies alles sind Spuren, in denen wir unseren Gott schauen können. Die wahrgenommene Erscheinung wird als Abbild in einem Zwischenraum erzeugt und dann dem Wahrnehmungsorgan selbst eingeprägt. Sie führt durch diese Einprägung zu ihrem Ursprung hin, nämlich zu dem Gegenstand, der erkannt werden soll. Damit verweist sie nachdrücklich darauf, dass das ewige Licht aus Sich heraus ein Abbild erzeugt, ein glanzvolles Leuchten, das Ihm gleich ist an Sein, Wesen und Ewigkeit. Das ist Der, Welcher das Bild des unsichtbaren Gottes, der Glanz Seiner Herrlichkeit und die Gestalt seines Wesens heißt. Dieser ist durch Seine ursprüngliche Zeugung überall, wie eben ein Gegenstand im gesamten Zwischenraum ein Abbild seiner selbst erzeugt. Durch die Gnade der Einigung vereint Er Sich mit einer individuellen Menschennatur, wie ein Bild sich mit dem körperlichen Organ vereint, damit Er uns durch diese Einigung zum Vater zurück führt wie zum quellenhaften Ursprung und Gegenüber. Wenn also alle erkennbaren Dinge gewöhnlich eine Erscheinung ihrer selbst erzeugen, dann verkündet dies lauthals, dass in ihnen wie in einem Spiegel die ewige Zeugung des Wortes, Bildes und Sohnes, das seit Ewigkeiten aus Gott dem Vater ausströmt, geschaut werden kann.



18.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt (Teil IX)

5. Das Beurteilen

Auf die Wahrnehmung und das Genießen folgt das Beurteilen. Damit wird nicht nur beurteilt, ob dieses oder jenes weiß oder schwarz ist, denn das ist die Aufgabe des Einzelsinnes, auch nicht allein, ob es zuträglich oder schädlich ist, denn das ist die Aufgabe des inneren Sinnes, sondern vor allem, wodurch ein gewisses Gefallen beurteilt und begründet wird. Bei diesem Tun wird nach dem Grund des Gefallens, das in der Sinneswahrnehmung vom Gegenstand empfangen wird, gefragt. Wenn nach dem Grund des Schönen, Süßen und Bekömmlichen gefragt wird, bedeutet das aber, dass es sich als ein Verhältnis in der Gleichheit heraus stellt. Der Begriff der Gleichheit bleibt der gleiche in kleinen und in großen Dingen: Er wird beim Messen nicht erweitert, kennt keine Reihenfolge und vergeht nicht mit den vergänglichen Dingen, auch wird er durch Bewegungen nicht verändert. Er sieht also ab von Ort, Zeit und Bewegung, deshalb ist er unveränderlich, unbegrenzbar, ohne Ende und ganz und gar geistig. Das Beurteilen ist also ein Handeln, welches das äußere Bild, das durch die Sinne wahrgenommen wird, in das Erkenntnisvermögen eintreten lässt und es dabei reinigt und ablöst. So hat also die gesamte Welt durch die Tore der Sinne einen Zutritt zur menschlichen Seele, der vermittelt wird durch die genannten drei Tätigkeiten.



17.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt (Teil VIII)

4. Das Genießen (Teil II)

Oder die Proportion wird bemerkt als Mächtigkeit oder Kraft, weshalb sie Süßigkeit heißt, wenn ihre Kraft den Empfänger überkommt, ohne unangenehm zu sein. Denn durch Extremlagen werden die Sinne traurig gestimmt, dagegen sind sie froh im mittleren Bereich.
Oder die Proportion wird bemerkt in der Wirksamkeit oder im Nachdruck, der dann angemessen ist, wenn die tätige Ursache im Vorgang des Handelns das Bedürfnis des passiven Teils erfüllt. Das heißt ihn heilen und nähren, was vor allem beim Geschmack und beim Tastsinn hervor tritt. Insgesamt also gilt, dass die äußerlich sinnenfälligen Dinge durch das Genießen in der dreifachen Art des Gefallens als Abbild in die Seele eintreten.



16.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt (Teil VII)

4. Das Genießen (Teil I)

Auf diese Wahrnehmung folgt, wenn sie der Sache entspricht, das Genießen. Die Sinne erfreuen sich an dem wahrgenommenen Gegenstand, der durch Ähnlichkeit gewonnen wird, oder, genauer gesagt, an der Lieblichkeit, wie beim Sehen oder an der Süßigkeit, wie beim Riechen und Hören oder an der Gesundheit, wie beim Berühren und Schmecken. Jede Freude entsteht durch Proportion. Weil nun die einzelne Erscheinung Gestalt, Kraft und Tätigkeit besitzt und demgemäß einen Bezug zum Ursprung hat, von dem sie ausgeht, einen Bezug zur Mitte,
durch die sie geht, und einen Bezug zum Ziel, zu dem sie hinstrebt, deshalb wird die Proportion entweder als Ähnlichkeit wahrgenommen, wodurch es zum Begriff der Erscheinung oder der Form kommt, und dann heißt sie Lieblichkeit. Denn Schönheit ist nichts anderes als zahlenmäßige Übereinstimmung, oder sie ist ein Ebenmaß der Teile nebst ansprechenden Farben.



15.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt (Teil VI)

3. Das Wahrnehmen

Es tritt also die gesamte Sinnenwelt mit ihren drei Arten von Dingen durch das Wahrnehmen in die menschliche Seele ein. Die sinnlich wahrnehmbaren äußeren Dinge gelangen zuerst in die Seele, und zwar durch die Tore der fünf Sinne. Sie treten, wie ich betone, nicht als Substanzen, sondern durch ihr Abbild hinein. Diese werden zuerst im Medium erzeugt, gelangen dann aus dem Medium in das Organ, also vom äußeren in das innere Organ und von dort in das Wahrnehmungsvermögen. So macht die Erzeugung eines Bildes im Medium und vom Medium im Organ und dann die Hinwendung des Wahrnehmungsvermögens zu ihm die Wahrnehmung aus, die alle Dinge erfasst, die es außerhalb der Seele wahrnimmt



14.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt (Teil V)

2. Der Mikrokosmos (Teil II)

Durch diese Tore treten die einfachen Körper ein sowie die zusammengesetzten, die aus den einfachen gebildet sind. Wir nehmen aber durch die Sinne nicht nur das Einzelne auf, wie Licht, Ton, Geruch, Geschmack und die vier Grundeigenschaften, die der Tastsinn wahrnimmt, sondern auch das Allgemeine, das durch Zahl, Größe, Gestalt, Ruhe und Bewegung bestimmt ist.
Weil nun gilt, dass alles, was bewegt wird, durch etwas anderes bewegt wird, und es einiges gibt, das aus sich selbst bewegt wird und auch ruht, wie etwa Tiere, deshalb werden wir zur Erkenntnis geistiger Bewegungen geführt, während wir durch die fünf Sinne die Bewegungen der Körper wahrnehmen. Es ist, als ob wir durch die Wirkung zur Erkenntnis der Ursachen gelangen.



13.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt (Teil IV)

2. Der Mikrokosmos (Teil I)

Der Mensch also, auch Mikrokosmos genannt, hat fünf Sinne und damit fünf Tore, durch welche die Erkenntnis aller sinnlich wahrnehmbaren Dinge in seine Seele tritt.
Denn durch das Sehen treten die feinen, lichten und auch farbigen Körper ein, durch das Tasten die festen und erdhaften. Durch die drei mittleren Sinne treten die mittleren Körper ein; nämlich durch den Geschmack das Wässrige, durch das Gehör das Luftförmige, durch den Geruch das Rauchförmige. Diese drei haben etwas von der Art des Wassers, der Luft und des Feuers
oder des Warmen an sich, wie man es am Rauch sehen kann, der beim Verbrennen geruchhaltiger Stoffe auftritt.



12.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt (Teil III)

1. Der Makrokosmos (Teil II)

Was die einen und die anderen zugleich lenkt, sind die geistigen Substanzen, die entweder unablösbar verbunden sind, wie die Seelen der Tiere, oder ablösbar verbunden, wie die Seelen der Menschen, oder ganz losgelöst, wie die geistigen Kräfte des Himmels, welche die Philosophen die Intelligenzen, wir aber die Engel nennen. Diese haben nach den Philosophen die Aufgabe, die Himmelskörper zu bewegen. Deswegen wird ihnen die Lenkung des Universums zugeschrieben, indem sie von der Erstursache, also von Gott, einen Strom an Kraft empfangen, den sie zur
Aufgabe der Lenkung verströmen, die in Übereinstimmung mit der natürlichen Beschaffenheit der Dinge geschieht. Aus der Sicht der Theologen aber wird ihnen die Lenkung des Weltalls zugeteilt, damit sie nach Anweisung des höchsten Gottes die Werke der Erlösung vollbringen. Deshalb werden sie dienende Geister genannt, die denen gesandt sind, die das Erbe des Heils empfangen.



11.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt (Teil II)

1. Der Makrokosmos (Teil I)

Wir bemerken zunächst, dass diese Welt, die Makrokosmos heißt, durch die Tore der fünf Sinne in unsere Seele, den Mikrokosmos, eintritt, durch das Wahrnehmen, Genießen und Beurteilen der sinnenhaften Gegenstände. Das lässt sich folgendermaßen einsehen: In der Welt gibt es erzeugende und erzeugte Gegenstände, und es gibt Gesetze, welche die einen und die anderen lenken. Die erzeugenden Gegenstände sind die einfachen Körper, nämlich der Stoff der Himmelskörper und die vier Grundelemente (Feuer, Erde, Luft und Wasser). Denn aus den Elementen muss durch die Kraft des Lichtes, das den Gegensatz der Elemente versöhnt, alles als Mischung erzeugt und hervorgebracht werden, was überhaupt durch das Wirken einer natürlichen Kraft erzeugt und hervorgebracht wird. Die erzeugten Gegenstände sind Körper, die aus den Elementen zusammen gesetzt sind, z. B. Steine, Pflanzen, Tiere und die Körper der Menschen.



10.10.2022

II. Die Schau Gottes in Seinen Spuren
in der Sinnenwelt (Teil I)

2. Beginn der Stufe II

Mit dem Spiegel, in dem sich die sinnlich erfahrbaren Dinge spiegeln, verhält es sich so: Man kann Gott nicht nur durch sie, also durch Seine Spuren betrachten, sondern auch in ihnen, insofern nämlich, als Er in ihnen gegenwärtig ist durch Wesen, Macht und Gegenwart. Weil dies eine höhere Art des Denkens ist als die vorige, nimmt diese Überlegung den zweiten Platz ein. Sie ist also die zweite Stufe der Betrachtung, durch die wir geleitet werden müssen, um Gott in allen geschaffenen Dingen wahrzunehmen. Diese treten durch die körperhaften Sinne in unseren Geist ein.



09.10.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott
und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil XVII)

15. Glanz und Blindheit

Wer also durch so vielen Glanz in den Geschöpfen nicht erleuchtet wird, ist blind. Wer durch so vieles Rufen nicht aufwacht, ist taub. Wer nach all diesen Werken Gott nicht lobt, ist stumm. Wer nach so vielen Zeichen den Uranfang nicht bemerkt, ist dumm.
Öffne also die Augen, spitze die Ohren des Geistes, löse deine Lippen und mache dein Herz bereit, damit du in allen Geschöpfen deinen Gott siehst, Ihn hörst, lobst, liebst und anbetest, Ihn preist und ehrst, damit sich nicht etwa der ganze Erdkreis gegen dich erhebt. Denn aus diesem Grunde wird der ganze Erdkreis gegen die Unverständigen ankämpfen. Den Verständigen dagegen wird dieses der Stoff zum Lob sein. Sie können mit dem Propheten rufen: Du hast mich, Herr, durch Deine Taten froh gemacht, ich will jubeln über die Werke Deiner Hände. Wie herrlich sind Deine Werke, Herr! Mit Weisheit hast Du sie alle gemacht, die Erde ist erfüllt von Deinem Eigentum.



08.10.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott
und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil XVI)

14. Siebenfache Ausweitung (Teil III)

Dann die vielfache Art der Tätigkeit! Die eine ist natürlich, die andere künstlich, die dritte moralisch. In ihrer übergroßen Vielfalt zeigt sie die Unermesslichkeit Seiner Kraft, Kunst und Güte, die für alles die Ursache des Daseins, der Erkenntnisgrund und die Lebensordnung ist.
Die Ordnung schließlich nach dem Schema von Zeitdauer, Lage und Einfluss, nämlich nach früher und später, nach höher und tiefer, nach edel und unedel! Sie legt im Buch der Schöpfung deutlich den Vorrang, die Höhe und den Adel des Uranfangs dar, so weit es sich auf die Unendlichkeit Seiner Macht bezieht. Die Ordnung der göttlichen Gesetze, Vorschriften und Urteile im Buch der Hl. Schrift zeigt die Unermesslichkeit Seiner Weisheit. Die Ordnung schließlich der göttlichen Sakramente, Wohltaten und Belohnungen im Leib der Kirche zeigt die Unermesslichkeit der Güte, so dass die Ordnung selbst uns ganz offensichtlich zu dem leitet, welcher der Erste und Höchste, der Mächtigste, Weiseste und Beste ist.



07.10.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott
und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil XV)

14. Siebenfache Ausweitung (Teil II)

Dann die Vielzahl der Dinge in der allgemeinen, besonderen und individuellen Verschiedenheit! In Substanz, Form oder Gestalt und Tätigkeit legt sie über die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit hinaus deutlich die Grenzenlosigkeit der drei genannten Seinsweisen in Gott dar und zeigt sie auf.
Dann die Schönheit der Dinge mit der Vielfalt der Lichter, der Figuren und Farben! Sie ruft es deutlich in den einfachen, den gemischten und den gegliederten Körpern aus, so in den Himmelskörpern und Mineralien, in den Steinen und Metallen und in den Pflanzen und Tieren.
Dann die Fülle der Dinge, die das gleiche deutlich anzeigt! Die Materie ist voller Keime von Gestalten; die Form ist voller Kraft, das Mögliche zu realisieren; und die Kraft ist wegen ihrer Nachdrücklichkeit voller Wirksamkeit.



06.10.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott
und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil XIV)

14. Siebenfache Ausweitung (Teil I)

Diese Überlegung lässt sich verbreitern auf die sieben Bedingungen, unter denen geschaffene Dinge existieren. Wer nach dem Ursprung, der Größe, der Vielzahl, der Schönheit, der Fülle, der Tätigkeit und der Ordnung aller Dinge fragt, erhält ein siebenfaches Zeugnis für die göttliche Macht, Weisheit und Güte.
Denn der Ursprung der Dinge im Sechstagewerk mit Geschaffensein, Unterschiedenheit und Ausschmückung verkündet dreierlei: die göttliche Macht, die alles aus dem Nichts hervorbringt, die Weisheit, die alles klar unterscheidet, und die Güte, die alles großzügig ausschmückt.
Dann die Größe der Dinge in Länge, Breite und Tiefe! In der Ausstrahlung ihrer Kraft erstreckt sie sich lang, breit und tief, wie es bei der Ausbreitung des Lichtes sichtbar wird. In der Nachdrücklichkeit der inneren, beständigen und sich ausbreitenden Tätigkeit, wie es bei der Wirkung des Feuers sichtbar wird, zeigt die Größe deutlich die Unermesslichkeit der Macht, Weisheit und Güte des dreieinigen Gottes an, Der in allen Dingen durch Macht, Gegenwart und Wesenheit existiert, ohne dadurch begrenzt zu sein.



05.10.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott
und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil XIII)

13. Die Güte Gottes

Drittens, der Blick des Forschers! Dieser sieht, dass einiges nur ist, einiges ist und lebt und einiges ist, lebt und erkennt. Das erste hat einen geringeren Wert, das zweite einen mittleren, das dritte einen höheren.
Er sieht weiter, dass einiges nur körperlich und einiges zum Teil körperlich, zum Teil geistig ist. Daraus bemerkt er, dass anderes ganz geistig und im Verhältnis zu beiden das Höhere und Wertvollere ist.
Er sieht noch mehr: Einiges ist veränderlich und vergänglich, wie all das, was es auf der Erde gibt, und einiges ist veränderlich und unvergänglich, wie all das, was am Himmel ist. Daraus bemerkt er, dass einiges unveränderlich und unvergänglich ist, wie das, was über dem Himmel hinaus liegt.
Von diesen sichtbaren Dingen steigt er auf zur Betrachtung der Macht, Weisheit und Güte Gottes, indem er ihn als seiend, lebendig und erkennend, vor allem aber als geistig, unvergänglich und unveränderlich erkennt.




04.10.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil XII)

12. Die Weisheit Gottes

Dann der Blick des Glaubenden, der die Welt insgesamt anschaut! Er bemerkt den Anfang, den Verlauf und das Ende. Denn im Glauben erkennen wir, dass der Weltlauf dem Wort des Lebens entspricht.
Im Glauben erkennen wir, dass es drei Epochen mit drei Arten von Gesetzen gibt, die Epoche der Natur, die Epoche der Schrift und die Epoche der Gnade. Sie folgen aufeinander und wurden in genauester Ordnung durchlaufen. Im Glauben erkennen wir, dass die Welt durch ein Endgericht beendet wird. An der ersten Epoche erkennen wir die Macht, an der zweiten die Vorsehung und an der dritten die Gerechtigkeit des höchsten Ursprungs.



03.10.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil XI)

11. Die Macht Gottes

Zunächst der Blick des Betrachters, der die Dinge anschaut, wie sie in sich selbst sind! Er findet in ihnen Gewicht, Zahl und Maß. Gewicht haben die Dinge in Bezug auf den Ort, zu dem sie streben; Zahl, wodurch sie unterschieden, und Maß, wodurch sie begrenzt werden. So erkennt der Betrachter in ihnen Seinsweise, Schönheit und Ordnung, insbesondere auch Substanz, Kraft und Tätigkeit. Wie bei einer Spur kann aus diesen das Verständnis für die unermessliche Macht, Weisheit und Güte des Schöpfers aufsteigen.



02.10.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil X)

10. Akt, Habitus und Potenz

Des Schöpfers hohe Macht, Weisheit und Güte strahlt in den geschaffenen Dingen wider, so dass sich der Körpersinn auf dreifache Weise dem inneren Sinn mitteilt. Denn der körperliche Sinn dient der Vernunft, dem verständig Forschenden, dem treu Glaubenden oder dem einsichtig Betrachtenden. Der Betrachtende schaut auf die reelle Existenz der Dinge, der Glaubende auf den geschichtlichen Verlauf der Dinge, der Forscher auf die möglichen Seinsstufen der Dinge.



01.10.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil IX)

9. Beginn der Stufe I

Auf der Jakobsleiter muss man zuerst hinauf, dann hinunter steigen. Darum setzen wir den ersten Schritt zum Aufstieg auf den Boden, indem wir die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt als einen Spiegel für uns ansehen, durch den wir zu Gott, dem höchsten Baumeister, gelangen können. So werden wir zu wahrhaften Hebräern, die aus Ägypten in das Land gelangen, das den Vätern versprochen wurde. So werden wir auch zu Christen, die mit Christus aus dieser Welt zum Vater hinüber gehen. So werden wir zu Liebhabern der Weisheit, die da ausruft: Kommt alle zu mir, die ihr mich begehrt, sättigt euch an meinen Früchten! Denn auch von der Größe und Schönheit der Geschöpfe lässt sich auf ihren Schöpfer schließen.


30.09.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil VIII)

8. Praxis der Wahrheit

Wer also zu Gott aufsteigen will, der muss die Natur verformende Schuld abtun und die oben genannten natürlichen Kräfte üben. Durch das Gebet gelangt er zur erneuernden Gnade, durch guten Lebenswandel zur reinigenden Gerechtigkeit, durch Nachsinnen zum erleuchtenden Wissen und durch Kontemplation zur vollkommenen Weisheit. Wie also niemand zur Weisheit gelangt außer durch Gnade, Gerechtigkeit und Wissen, so auch niemand zur Kontemplation außer durch tiefes Nachsinnen, heiligen Lebenswandel und versunkenes Gebet. Die Gnade ist das Fundament, sowohl des rechten Willens wie des erleuchteten Verstandes. Deshalb müssen wir zuerst beten, dann heilig leben, drittens Bilder voll Wahrheit anschauen und so anschauend nach und nach aufsteigen, bis wir zum erhabenen Berg gelangen, wo der Gott der Götter auf dem Zion geschaut wird.



29.09.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil VII)

7. Christologie der Gnade

Von Natur aus und ursprünglich war der Mensch in der Weise geschaffen, dass er der Ruhe und Kontemplation fähig war. So ausgestattet setzte ihn Gott in das Paradies der Wonnen. Als er sich aber vom wahren Licht abwandte, zum veränderlichen Gut hin, da hat er durch persönliche Schuld sich selbst und durch die Erbschuld sein ganzes Geschlecht verbogen. Diese Sünde hat die menschliche Natur auf zweifache Weise zu Schaden gebracht, durch Dummheit den Geist und durch Begehrlichkeit das Fleisch. So sitzt der Mensch verblendet und verbogen in der Finsternis, ohne das Licht des Himmels schauen zu können. Der Zustand kann sich nur ändern, wenn die Gnade zusammen mit der Gerechtigkeit ihm gegen das Begehren zu Hilfe kommt und das Wissen zusammen mit der Weisheit gegen die Dummheit. Das alles geschieht durch Jesus Christus, der von Gott für uns zur Weisheit und Gerechtigkeit, zur Heiligkeit und Erlösung gemacht worden ist. Dieser ist Gottes Weisheit und Kraft, das fleischgewordene Wort voll Gnade und Wahrheit. Deshalb hat er die Gnade und die Wahrheit bewirkt, also die Gnade der Liebe eingegossen. Wenn diese aus reinem Herzen, gutem Gewissen und echtem Glauben kommt, richtet sie die ganze Seele in den drei oben genannten Wahrnehmungen neu aus. Dieses Wort lehrt das Wissen der Wahrheit gemäß den drei Sparten der Theologie, der symbolischen, der eigentlichen und der mystischen Theologie. Symbolisch lernen wir die sinnlich erfahrbaren Dinge richtig gebrauchen, dogmatisch die geistigen Dinge und mystisch werden wir zu dem hin gerissen, was alles Begreifen übersteigt.



28.09.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil VI)

6. Sechs Kräfte der Seele

Wie es sechs Stufen des Aufstiegs zu Gott gibt, so auch sechs Stufen der seelischen Kräfte, durch die wir von den tiefsten zu den höchsten Dingen aufsteigen, von den äußeren zu den inneren, von den zeitlichen zu den ewigen Dingen. Die Stufen sind: Sinneswahrnehmung, Vorstellungskraft, Verstand, Vernunft, Einsicht und die Spitze des Geistes, die auch Funke des Gewissens heißt. Diese Stufen wurden uns eingepflanzt durch die Natur, verunstaltet durch die Schuld und neu gestaltet durch die Gnade. Sie müssen gereinigt werden durch die Gerechtigkeit, ausgebildet durch das Wissen und vollendet durch die Weisheit.



27.09.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott
und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil V)


5. Verdoppelung der Stufen

Jede der drei oben genannten Kategorien wird verdoppelt, wenn man Gott als Alpha und als Omega betrachtet, oder wenn man in jeder der obigen Kategorien Gott entweder wie durch einen Spiegel oder wie in einem Spiegel anschaut, oder wenn man jede dieser Sichtweisen mit einer anderen verbindet oder für sich allein betrachtet. Von daher ist es notwendig, die Hauptstufen auf sechs zu erhöhen. Wie Gott in sechs Tagen das gesamte All vollendet und am siebenten geruht hat, so wird die kleine Welt, der Mensch, in sechs aufeinander folgenden Stufen der Erleuchtung auf genau geordnete Weise zur Ruhe des Schauens geführt.
Hierzu möge folgendes als Bild dienen: Auf sechs Stufen stieg man zum Throne Salomos empor; die Seraphim, die Jesaja sah, hatten sechs Flügel; nach sechs Tagen rief der Herr den Mose aus der Mitte der Finsternis an; Christus führte nach sechs Tagen, wie es bei Matthäus heißt, die Jünger auf den Berg und wurde vor ihnen verwandelt.



26.09.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott
und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil IV)


4. Dreifaches Wahrnehmen

Gemäß dieser dreifachen Einteilung besitzt unser Geist drei Hauptformen der Wahrnehmung. Die eine bezieht sich auf die äußerlichen Körper und wird deshalb Leiblichkeit oder Sinnlichkeit genannt; die zweite wendet sich nach innen und zu sich selber, sie wird deshalb Seele genannt; die dritte geht über sich selbst hinaus, sie wird deshalb Geist genannt.
Wer zu Gott aufsteigen will, muss sich mit diesen drei Vermögen ausrüsten. Dann kann er Ihn lieben aus ganzem Geist, aus ganzem Herzen und aus ganzer Seele. Darin besteht die vollkommene Beachtung des Gesetzes, darin besteht auch die christliche Weisheit.



25.09.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott
und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil III)

3. Dreifaches Licht

Dieser Aufstieg ist wie der dreitägige Weg in der Wüste. Er ist das dreifache Licht eines jeden Tages: das erste Licht am Abend, das zweite am Morgen, das dritte am Mittag.
Der Aufstieg entspricht der dreifachen Existenz der Dinge, nämlich in der Materie, im Verstand und in der Ewigen Kunst. Deshalb heißt es in der Schrift: es werde, Er schuf, und es ist geworden. Weiter gibt es in Christus eine dreifache Substanz, worauf sich der Aufstieg bezieht, die körperliche, die geistige und die göttliche Substanz. Und dazu ist Christus unsere Leiter.



24.09.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott
und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil II)

2. Dreifaches Sein

In solch intensivem Gebet werden wir erleuchtet, um die Stufen des Aufstiegs zu Gott zu erkennen. Denn im Zustand unseres gegenwärtigen Lebens hat die Vielheit der Dinge den Zweck, uns als Leiter zu dienen und zu Gott hinauf zu führen. Einige Dinge sind Spuren, andere Bilder; einige körperlich, andere geistig; einige zeitlich, andere dauern äonenhaft. Daher liegen einige Dinge außerhalb von uns, andere innerhalb von uns. Wenn wir den Uranfang erkennen wollen, der auf höchste Weise geistig und ewig und über uns ist, müssen wir durch die Spuren hindurch schreiten, die räumlich und zeitlich sind und außerhalb von uns liegen. Dann werden wir auf dem Weg Gottes geführt. Wir müssen in unseren Geist eintreten, weil er das äonenhafte und geistige Bild Gottes ist und sich innerhalb von uns befindet. Das heißt, sich in der Wahrheit Gottes zu bewegen. Schließlich müssen wir, um den Uranfang zu schauen, zum Ewigen und rein Geistigen übergehen, das sich oberhalb von uns befindet. Das bedeutet dann die Freude an der Erkenntnis Gottes und an der Verehrung Seiner Größe.



23.09.2022

Betrachtung des Armen in der Wüste

I. Die Stufen des Aufstiegs zu Gott
und die Schau Gottes durch Seine Spuren im Universum (Teil I)

1. Tal der Tränen

Selig der Mensch, dem Du zu Hilfe kommst!
An dem Ort, an den er von Gott gesetzt wurde, hat er in seinem Herzen den Aufstieg aus dem Tal der Tränen beschlossen. Die Seligkeit ist nichts anderes als das Entzücken am höchsten Gut. Da das höchste Gut über uns liegt, kann niemand selig werden, außer wenn er über sich selbst hinaus steigt, nicht im Körper, sondern in einem Aufstieg des Herzens. Über uns selbst aber können wir nicht hinaus gelangen, außer durch eine Kraft, die von oben kommt und die uns hinauf zieht.
Soviel auch die inneren Stufen vorbereitet sein mögen, es nützt nichts, wenn Gottes Hilfe nicht dabei ist. Göttliche Hilfe erhalten diejenigen, die aus dem Herzen tief und eindringlich darum bitten. Das bedeutet, in diesem Tal der Tränen mit leidenschaftlichem Gebet nach Gott selbst zu seufzen. Das Gebet ist die Mutter und der Ursprung jeder Bewegung nach oben. Daher schickt Dionysius dem Buch über die mystische Theologie, in dem er uns zum geistigen Aufstieg anleiten will, zunächst ein Gebet voraus. Das wollen wir also tun und zu Gott, unserem Herrn, sprechen: Führe mich, Herr, auf Deinem Weg. Ich will ihn gehen in Deiner Wahrheit. Mein Herz soll sich freuen, damit es Deinen Namen ehrt.



22.09.2022

Vorrede zu
Der Weg des Menschen zu Gott

5. Bitte und Ermahnung

Es schien mir sinnvoll zu sein, die Abhandlung in sieben Kapitel einzuteilen und jedem Kapitel zum besseren Verständnis eine Überschrift voran zu stellen. Schließlich bitte ich, mehr auf die gute Absicht des Autors als auf das vollbrachte Werk, mehr auf den Sinn des Gesagten als auf den gepflegten Stil, mehr auf die Wahrheit als auf den Genuss, mehr auf die Übung für den ganzen Menschen als auf die Belehrung für
die Vernunft zu achten. Damit das geschieht, darf man diese Betrachtungen nicht flüchtig erledigen wollen, sondern muss sie hartnäckig wieder und wieder durchkauen.
Ende der Vorrede



21.09.2022

Vorrede zu
Der Weg des Menschen zu Gott


4. Seufzen im Gebet (Teil II)

Denen also, die von göttlicher Gnade erfasst sind, lege ich die folgenden spekulativen Gedanken vor, den demütigen und treuen,
den gewissenhaften und geistlichen Menschen, den Menschen, die mit dem Öl der Freude gesalbt sind, denen also, welche die göttliche Weisheit lieben und die voll Sehnsucht danach entflammt sind, denen, die frei sein wollen, Gott zu preisen, Ihn zu bewundern und auch zu schmecken. Ich gebe aber zu bedenken, dass der äußerlich aufgestellte Spiegel wenig oder gar nichts nützt, wenn nicht der innere Spiegel unseres Geistes gereinigt und poliert ist. Übe dich also zuerst, du Gottessucher, an den beißenden Stachel des Gewissens heran zu kommen, bevor du deine Augen zu den Strahlen der Weisheit erhebst, die in ihren beiden Spiegeln widerstrahlen, damit du nicht, wenn du diese Strahlen erblickst, in ein noch tieferes Loch der Finsternis fällst!



20.09.2022

Vorrede zu
Der Weg des Menschen zu Gott

4. Seufzen im Gebet (Teil I)

Zuerst lade ich daher den Leser zum Seufzen im Gebet ein, durch Christus den Gekreuzigten, durch dessen Blut wir vom Schmutz der Sünden befreit werden. Er glaube nämlich nicht, dass ihm der Buchstabe ohne Charisma, das Denken ohne Frömmigkeit, das Forschen ohne Wundern, die Übersicht ohne Begeisterung, die Anstrengung ohne Scheu, das Wissen ohne Liebe, die Klugheit ohne Demut, die Mühe ohne göttliche Gnade oder der Spiegel ohne von Gott gehauchte Weisheit etwas nütze!



19.09.2022

Vorrede zu
Der Weg des Menschen zu Gott

3. Seraph mit sechs Flügeln (Teil II)

Das Bild von den sechs Flügeln der Seraphen legt es nahe, an sechs Sprossen der Erleuchtung zu denken, die bei den Geschöpfen beginnen und bis zu Gott führen, zu dem niemand wirklich gelangt außer durch den Gekreuzigten. Denn wer nicht durch diese Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Wer aber durch diese Tür eintritt, der wird ein und ausgehen und Weide finden. Deshalb sagt Johannes in der Apokalypse: Selig, die ihr Gewand waschen im Blut des Lammes, um ein Anrecht auf den Baum des Lebens zu erhalten: durch die Tore treten sie in die Stadt ein. Es ist, als ob er sagen wollte, dass niemand durch Kontemplation allein das himmlische Jerusalem betritt, außer er nimmt das Blut des Lammes als Tor zum Eintritt. Denn es gibt keine andere Art, sich auf die göttlichen Betrachtungen, die zur geistigen Entrückung führen, vorzubereiten, als mit Daniel ein Mensch der Sehnsucht zu werden. Die Sehnsucht wird in uns auf doppelte Weise entzündet: Zum einen durch das Rufen im Gebet, worin sich das Seufzen des Herzens Bahn bricht, dann durch den Blitz im Denken, wodurch sich der Geist geradewegs und mit allen Kräften den Strahlen des Lichtes zuwendet.



18.09.2022

Vorrede zu
Der Weg des Menschen zu Gott

3. Seraph mit sechs Flügeln (Teil I)

Denn unter diesen insgesamt sechs Flügeln lassen sich gut die sechs Grade der Erleuchtung verstehen, in denen die Seele wie auf Stufen oder Teilstrecken vorbereitet wird, durch ekstatische Entrückungen zum Frieden der christlichen Weisheit zu gelangen. Keiner kann diesen Weg beschreiten, außer er ist von glühender Liebe zum Gekreuzigten erfüllt. Durch diese Liebe wurde Paulus, als er in den dritten Himmel gerissen wurde, so stark in Christus umgewandelt, dass er ausrief: Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir. Die gleiche Liebe hat den Geist des Franziskus so stark aufgesogen, dass der Geist im Körper sichtbar wurde. Seitdem trug er bis zum Tode zwei Jahre später die hochheiligen Leidensmale an seinem Körper.



17.09.2022

Vorrede zu
Der Weg des Menschen zu Gott

2. Rückzug auf den Alverna

Nach dem Beispiel des seligsten Vaters Franziskus begann ich, ein Sünder zwar, in allem unwürdig, der ich aber jetzt nach dem Hinübergang des seligsten Vaters als siebter Generalminister der Brüder seine Stelle einnehme, diesen Frieden sehnsüchtig zu suchen. Da zog ich mich aufgrund eines göttlichen Winkes auf den Alvernaberg zurück, etwa zur gleichen Jahreszeit, als der Selige heimgegangen war, aber dreiunddreißig Jahre später. Es war ein Ort der Ruhe, und ich war voll Verlangen nach dem Frieden des Geistes. Als ich dort war und darüber nachdachte, welche geistigen Aufstiege zu Gott es gäbe, kam mir unter anderem das seltsame Wunder in den Sinn, das dem seligen Franziskus an dem vorgenannten Ort zugestoßen war. Ich meine die Vision des geflügelten Seraphen in der Gestalt des Gekreuzigten. Im Nachdenken darüber ging mir alsbald auf, dass diese Vision die Erhebung anzeigt, wie sie unser Vater in der Betrachtung erlebt hatte, und zugleich den Weg, wie man zu ihr gelangt.



16.09.2022

Vorrede zu
Der Weg des Menschen zu Gott

1. Anrufung des Friedens

Im Anfang rufe ich den ersten Anfang an, von dem alle Erleuchtungen wie vom Vater der Lichter herab steigen. Von Ihm geht jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk aus. Den Vater also rufe ich an durch Seinen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, damit Er uns auf die Fürbitte der allerseligsten Jungfrau Maria, die Mutter Dessen, Der zugleich Gott und unser Herr Jesus Christus ist, und auf die Fürbitte des seligen Franziskus, der uns wie ein Vater führt, erleuchtete Augen unseres Geistes schenke, damit wir unsere Schritte auf den Weg des Friedens lenken, der alles Begreifen übersteigt. Diesen Frieden verkündete und brachte unser Herr Jesus Christus. Seine Verkündigung hat unser Vater Franziskus wieder aufgenommen. Bei jeder Predigt, zu Anfang und zu Ende, verkündete er den Frieden; bei jedem Gruß wünschte er den Frieden; bei jeder Betrachtung seufzte er nach dem ekstatischen Frieden. Es war, als ob er schon ein Einwohner jenes Jerusalem ist, von dem der Freund des Friedens, der sogar mit denen in Frieden lebte, die den Frieden hassten, sagte: Erbittet für Jerusalem Frieden. Denn Franziskus wusste vom Thron Salomos, der nur im Frieden Bestand haben kann. Es steht ja geschrieben: Sein Zelt erstand im Frieden, seine Wohnung auf dem Zion.